Online-Chronik der Stadt Mügeln
 

Schurig und Prüfer / Schuhfabrik (heute Varia Color)


Es ist eine unleugbare Tatsache, dass Fortschritt in Gemeinden und bei Völkern niemals durch die Masse, sondern nur durch Persönlichkeiten erreicht wird, die zur rechten Zeit den rechten Gedanken zur Tat werden ließen. Auch auf unser Mügeln trifft das im Laufe der Ge-schichte zu. So auch im Jahre 1872. Während der Kriegsjahre 1870/71 hatte sich in Mügeln durch mehrere kleine Schuhmacher die Herstellung von Tuchschuhen eingebürgert. Das er-regte in hohem Maße die Aufmerksamkeit des Seifensieders Ferdinand Pilz, der nebenbei noch einen Altwarenhandel betrieb; kurz entschlossen beschäftigte er einige Schuhmacher mit der Herstellung von Tuchschuhen aus passenden Abfällen seines Altmaterials. Ein sol-cher Schuh wurde in der Regel mit einem Futter aus Fries (in der Textilindustrie dickes flauschartiges wolliges Mischgewebe) versehen, hatte trotz der Verwendung von Abfallstof-fen Haltbarkeit und ein solides Aussehen und wurde allgemein gern getragen. Herr Pilz konnte bald der Nachfrage nicht mehr genügen, so dass in ihm der ernstliche Wunsch rege wurde, das Unternehmen wesentlich zu vergrößern. Hierzu fehlten ihm jedoch die erforderli-chen Mittel. Doch fand er in dem damaligen Gerichtsassessor Friedrich Wilhelm Prüfer in Mügeln einen Förderer des neuen Erwerbszweiges, indem dieser seinen 24 Jahre alten Sohn Carl dazu veranlasste, auf seine sonstigen Pläne zu verzichten und in Gemeinschaft mit sei-nem Jugendfreunde Hermann Schurig eine Fabrik zur Herstellung von Tuchschuhen zu er-richten. Nach Beschaffung der nötigen Steppmaschinen, Leisten, Werkzeuge und Rohstoffe wurde dann vertrauensvoll am 06. Dezember 1872 der Betrieb mit einem Werkmeister und 8 Arbeitern in einem kleinen Hause in der Lommatzscher Vorstadt eröffnet. Für die Stadt Mü-geln hatte diese Gründung nicht geringe Bedeutung; war doch dadurch an Stelle der im Vor-jahre 1871 nach Riesa übergesiedelten großen Wagenfabrik von Seiderlich und Theißig neue Verdienstmöglichkeit geschaffen, eine Hoffnung, die auch in reichstem Maße in Erfüllung gegangen ist. Die Schuhfabrik Schurig & Prüfer entwickelte sich naturgemäß langsam, aber stetig weiter. Mit offenem kaufmännischen Blicke für alles Neue, was den Betrieb fördern konnte, verfolgten die jungen Herren Fabrikanten aufmerksam den Maschinenmarkt und die Bedürfnisse der Kundschaft, scheuten nicht große Ausgaben für teure Arbeitsmaschinen, führten neue Arbeitsweisen ein und benutzten feinere Filze und Leder, um ihren Erzeugnis-sen immer besseren Absatz zu verschaffen. Dank der geschmackvollen Musterkollektionen, die hinausgingen, hob sich die Nachfrage bald derart, dass die Räume zu eng wurden, so dass im Jahre 1879 im sogenannten Hospitalgarten an der Döbelner Straße auf eigenem Boden ein eigenes Heim für das Geschäft errichtet werden musste; der bescheidene Anfang zum Groß-betrieb der Gegenwart. Noch 7mal mussten bauliche Vergrößerungen vorgenommen werden, um den immer mehr sich steigernden Anforderungen an einen gut organisierten Fabrikbetrieb zu entsprechen und um größere Warenmengen auf den Markt zu bringen. Jetzt steht ein mas-siger Bau mit 3 Stockwerken in langer Front in schöner Geschlossenheit da, ein Zeugnis da-von, was unermüdlicher Fleiß, großer Schaffensdrang und kaufmännischer Weitblick zu leisten vermögen. Ehre denen, die es schufen!
Nach dem am 30. September 1899 erfolgten Ausscheiden des Mitbegründers Hermann Schu-rig wurde Herr Carl Prüfer alleiniger Inhaber, dem 1905 der gegenwärtige Besitzer, Herr Max Prüfer, zunächst noch als Angestellter helfend zur Seite trat. Die gemeinsame Arbeit wurde aber durch den Krieg 1914 jählings unterbrochen. Bestellungen wurden nicht mehr er-teilt, Annahme von unterwegs befindlichen Sendungen verweigert, in Ausführung befindli-che Aufträge zurückgezogen, Zahlungen nicht mehr geleistet, Arbeiter und Beamte, darunter auch Herr Max Prüfer, zum Heeresdienst eingezogen, so dass der Betrieb teilweise einge-schränkt werden musste. Nach erfolgter Blockierung Deutschlands durch die Feinde begann dann die Zeit der Zwangswirtschaft (!!) mit ihren Höchstpreisen, Kontrollstellen für Leder-bewirtschaftung, beschränkten Rohstoffzuweisungen, Betriebseinschränkungen, Stilllegun-gen und sonstigen wirtschaftlichen Belästigungen. Durch besonders günstige Umstände war die Schuhfabrik von der Stilllegung verschont geblieben. Die umsichtige Geschäftsleitung hatte vielmehr erreicht, die Genehmigung zur Herstellung von Kriegsstiefeln für den Privat-bedarf der Bevölkerung zu erlangen. Dank dieser Maßnahme konnte der Betrieb mit nur ge-ringen Ausnahmen während der Kriegsjahre aufrechterhalten werden.
Am 02. Januar 1919 übernahm der aus dem Krieg zurückgekehrte Herr Max Prüfer das Ge-schäft und konnte sich der nun über 70 Jahre alte Gründer der Firma, Herr Carl Prüfer, in den wohlverdienten Ruhestand zurückziehen, mit dem Bewusstsein, dass sein Werk in guten Händen sei, dass seine Arbeit nicht allein zur Schaffung persönlichen Wohlstandes gedient hatte, sondern zu einem guten Teile Arbeit am Gemeinwohl gewesen war.
Der neue Inhaber nahm nun in tatkräftiger Arbeit den Wiederaufbau seines Unternehmens in die Hand. Durch Beschaffung freu zu kaufender Materialien und Erwerb großer Mengen von Heeresgut wie Brotbeuteln, Patronentaschen, Tornister u. a. m.. war es bald wieder möglich, die wenig brauchbaren Ersatzstoffe, vor allem Papier, auszuschalten und wieder Musterkol-lektionen in Friedensgüte auf den Markt zu bringen. Die Arbeiterzahl beträgt jetzt fast das Dreifache wie vor dem Kriege (70/200) und reicht bei weitem nicht aus, um die Nachfrage zu befriedigen. Das Absatzgebiet erstreckte sich vor dem Kriege außer über ganz Deutschland auch über die verschiedensten ausländischen Staaten. Alle diese Erfolge wären aber nicht möglich gewesen, wenn nicht ein Stamm hervorragender Beamter, Angestellter und Arbeiter, Männer und Frauen, in treuester Weise und in ernster Pflichterfüllung mitgewirkt hätten. Es sind darunter viele, die bereits das 25- und 30jährige Jubiläum hinter sich haben. Auch ihrer sei an dieser Stelle in Ehren gedacht.
Möge über dem Hause Schurig & Prüfer auch fernerhin Gottes reicher Segen ruhen und die Firma allezeit in Ehren genannt werden. (aus dem Heimatbuch von 1925)