Der große
Schnee von 1886
Mir ist gar nicht wie Weihnachten. Ich weeß nich, mer hat überhaupt
keene Stimmung. So ähnlich hört man es oft in den Tagen
vor Weihnachten, wenn eben das Wetter so gar nicht „mitspielt“,
wenn die Temperaturen eher auf Ostern als auf Weihnachten schließen
lassen. Zu einem „richtigen Weihnachten“, so meint
man eben, gehört Schnee und Kälte. Dabei wissen wir al
aufgeklärte Mitteleuropäer, dass in unserem mitteldeutschen
Flachland auf sieben Jahre im Schnitt ein weißes Weihnachten
kommt.
Wie ein ehemaliger Mügelner in seinen Erinnerungen ein „weißes“ Weihnachten
beschreibt, das wollen wir uns nun einmal ansehen.
Wenn zur Winterzeit die Flocken lustig vom Himmel herabwirbeln
und ich mühsam durch den tiefen Schnee tapse, dann werde ich
oft an ein Ereignis aus der Jugendzeit erinnert.
Lange ist das her. Es war vor fünfzig Jahren, also 1886.
Ich war damals Lehrling in der Mügelner Buchdruckerei. Die
erste Dezemberhälfte war regnerisch, stürmisch und trübe
gewesen. Dann setzte am 19. des Monats ein gewaltiger Schneefall
ein. Es war ein Sonntag. Es schneite ununterbrochen drei Tage und
Nächte. Die Flocken fielen so dicht, dass es nicht nur im
Zimmer, sondern auch auf den Straßen ziemlich dunkel wurde.
Bald war aller Verkehr lahmgelegt. Die Kleinbahn nach Oschatz und
Döbeln ging wohl 8 bzw. 14 Tage nicht. Auf der Döbelner
Strecke, die damals wohl jedes Jahr einmal einschneite, saß meiner
Erinnerung nach ein Zug bei Töllschütz oder Tronitz die
ganze Nacht fest. Unser Schuldirektor Kaden, der nach Leipzig gefahren
war, musste mehrere Tage in Wurzen liegen bleiben, da auch die
große Bahn den Betrieb einstellte.
In der Buchdruckerei wussten wir bald nicht mehr, was wir ins
Wochenblatt setzen sollten. Zeitungen, Briefe usw. trafen nicht
ein. Telefon gab es noch nicht. Telegraphenlinien waren teilweise
auch zerstört. So waren wir vollständig abgeschnitten.
Nach 4 bis 5 Tagen ging die große Bahn wieder und es gelang
Postmeister Neef mit einem Schlitten nach Oschatz vorzudringen.
Es wird dies Donnerstag, der 23. Dezember, gewesen sein. Nun erhielten
wir die Postsachen paketweise. Aus diesen konnten wir bereits ersehen,
was der Schnee alles angerichtet hatte.
In Mügeln wurden beide Feuerwehren zum Schneeauswerfen kommandiert.
Auf dem Rathause wurden Listen der Bürger ausgeschrieben,
die gegen geringe Entschädigung zum Schneeschippen auf den
zahlreichen Kommunikationswegen herangezogen wurden. Die größte
Sorge hatten aber die Hausfrauen. Es gab an vielen Orten keine
Hefe und man wollte doch Stollen backen. So auch in Mügeln.
Doch bald konnte der Oehmigen Ernst fast allen helfen. Er muss
besonderes Glück gehabt haben. Den begehrten Artikel soll
er mit starken Hindernissen von Oschatz bezogen haben und zwar
ziemlich viel davon. Nicht nur die Haushaltungen, sondern fast
alle Bäcker bezogen Hefe von ihm. Von letzteren soll er aber
einige ganz schön „angeniest“ haben: „Sonst
kauft ihr nicht bei mir, aber jetzt bin ich gut!“
In den Mügelner Straßen waren bald kleine Schneegebirge
entstanden, die den Bewohnern der Erdgeschosse die Aussicht versperrten.
Morgens mussten die Leute erst tüchtig zur Schaufel greifen,
wenn sie zur Haustüre heraus wollten. Die Landstraßen
waren meist zu schmalen Hohlwegen geworden, indem zu beiden Seiten
mehrere Meter hohe Schneewände sich hinzogen. Von den Bäumen
ragten nur die Kronen über die weißen Massen heraus.
Damals gab es noch keine Autos. Wie würde ein solches Ereignis
bei dem heutigen Verkehr sich auswirken?
Manche Dorfbewohner konnten nicht an die etwas entfernten Brunnen
gelangen. Um dem Wassermangel abzuhelfen, wurde da im Kessel oder
Ofen Schnee geschmolzen. Ich weiß, dass im Dorf Ragewitz
bei Mutzschen der Brotwagen (von Zschadraß) für die
Landesanstalt Hubertusburg mit vier Pferden festsaß. Fuhrwerksbesitzer
Rasch von da kam zu Hilfe und spannte noch zwei Pferde davor. Mit
sechs Rossen würgte und kämpfte man sich weiter vorwärts,
ungewiss, ob man das Ziel erreichen würde.
Ein alter Bekannter von mir war am 19. Dezember bei Merseburg
mit dem Zuge eingeschneit und konnte stundenlang nicht weiter.
Bald fingen die mitreisenden Frauen an zu weinen und zu jammern.
Was sollte nun werden? Es war doch nicht an Anschluss in Leipzig
oder Halle zu denken. Man konnte aber wollen oder nicht, man musste
bei dem Wetter im Zuge beleiben. Manche der Männer fluchten,
andere fassten die Lage humoristisch auf und rissen Witze. Endlich
traf aber doch noch eine Lokomotive ein und weiter ging die Fahrt.
Leipzig war vier Tage vom Verkehr abgeschnitten. Auch die Pferdebahn
ging nicht mehr. Packträger waren gesuchte Leute. Die Bahnhöfe
und ihre Umgebung waren dicht von Menschen belagert.
Viele davon wollten weiterfahren, manche erwarteten Angehörige.
Andere wieder hatte die Neugierde hingetrieben. In der Stadt waren
die größeren Kohlenlager bereits geräumt, Milch
und verschiedene andere Lebensmittel fehlten. In der bekannten
Leipziger Gaststätte „Thüringer Hof“ gab
es kein Würzburger Bier mehr, nur Wein konnte noch ausgeschenkt
werden. Der Postverkehr Leipzig-Dresden wurde notdürftig durch
Schlitten aufrechterhalten (wahrscheinlich auch zwischen einigen
anderen Orten). Viele Weihnachtspakete und Briefe kamen erst nach
dem Feste an.
Wie schon gesagt, wurde am 23. Dezember der Verkehr auf einigen
Hauptlinien wieder aufgenommen. Mit Jubel wurden die ersten Züge
begrüßt. Meine Nachbarin fuhr am 24. Dezember als vierzehnjähriges
Mädchen nach Gräfenhainichen. Als sie in Bitterfeld ankam,
musste sie auf dem Bahnsteig in Schnee und Kälte warten. Es
war ungewiss, wann ein Zug weiterging. Damals war dort nur ein
kleines Wartezimmer vorhanden. Gastwirtschaft gab es nicht. Nach
fünf Stunden konnte das junge Fräulein endlich seine
Reise fortsetzen. Es hatte sich so erkältet, dass es mehrere
Wochen an Rheumatismus darniederlag.
Viele Menschen sind damals bei dem Unwetter umgekommen, viele
haben auch gesundheitliche Nachteile gehabt. Tausende fleißiger
Hände kämpften gegen die gewaltigen Kräfte der Natur.
Besonders das Militär hat große Leistungen vollbracht.
Erst als es zu schneien aufhörte, waren die Anstrengungen
erfolgreich. So einen Schneefall habe ich nicht wieder erlebt.
Nach Jahren sprach man noch davon und auch heute noch, hört
man ältere Leute vom „großen Schnee“ von
1886 erzählen.
Leider forderten die furchtbaren Schneewehen auch Opfer an Menschenleben.
Aus allen Teilen des Reiches wurde gemeldet, dass Menschen irgendwo
vom Wege abgekommen, im tiefen Schnee versunken und furchtbar zugrunde
gegangen wären. „Am 2. Feiertage grub man unweit des
Dorfes Rittmitz einen Mann namens Preuß aus Schrebitz aus
dem Schnee und am 2. Feiertage wurde auch der vermisste Seilermeister
Krauke aus Ostrau in der Nähe seines Wohnortes tot aufgefunden“.
So berichtete unsere Heimatzeitung. Erschütternd klingen diese
Zeilen, die uns heute nur ahnen lassen, welch furchtbare Folgen
der Schnee der Weihnacht 1886 angerichtet hatte. Erst am 29. Dezember
konnte endlich die Fühlungnahme mit der Außenwelt wider
aufgenommen werden.
Dies ist der wörtliche Bericht des Mügelners Otto Leidel
aus dem Mügelner Tageblatt von 1936.
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