Online-Chronik der Stadt Mügeln
 
Ausbau der Schmalspurbahn

Industrie, Großhandel, Handel, Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft fordern Ausbau der Schmalspurbahn Oschatz – Mügeln – Wermsdorf – Neichen-Zöhda in Normalspurbahn

„Die technische Entwicklung schreitet unaufhaltsam fort, dass lassen die ersten 100 Jahre deutscher Eisenbahngeschichte klar erkennen. Immer schnellere Maschinen, immer leistungsfähigere Wagen rollen auf stetig verbesserten Oberbau im Laufe der Jahrzehnte an dem Beschauer vorüber“. So steht in der Gedenkschrift „Hundert Jahre deutsche Eisenbahnen“ zu lesen.

„Die technische Entwicklung schreitet unaufhaltsam fort“, dass sei bei unserer deutschen Reichsbahn keinesfalls in Abrede gestellt, aber, was die Schmalspurbahn Oschatz – mügeln – Wermsdorf – Neichen-Zöhda anbetrifft, so dürfte diese Strecke ein Stiefkind der Reichsbahn sein. Es liegt uns fern, hier zu behaupten, dass nichts zu Verbesserung des Verkehrs geschehen sei, aber, wenn die Reichsbahndirektion Dresden in einem Schreiben, dem Stadtrate selbst zugibt, dass ein Ausbau dieser Schmalspurbahn in eine Vollspurbahn in Aussicht gestellt werden soll, dann hat es doch schon seine Bewandtnis. Das sei zunächst einmal festgehalten. Man sieht höheren Orts ein, dass auf die Dauer die besagte Strecke als Schmalspurbahn nicht weiter durchgeführt werden kann. Hier liegen die Verhältnisse tatsächlich im Argen. Ein Industriereiches Gebiet harrt der restlosen Aufschließung. Nicht ganz unbedeutend sind die Hemmnisse, die das Börtewitz-Kemmlitzer Kaolingebiet durch die rückständigen Verkehrsverhältnisse hat. Es sei an dieser Stelle an weitere bedeutende Industrien in unserem Gebiet erinnert. Die Ofenfabrik Mügeln, die chemische Fabrik „Lipsia“, die Kartoffelflockenfabrik, sie alle stellen fest, das der Schmalspurbahngüterverkehr nicht mehr den heutigen Anforderungen entspricht. Nicht nur die Industrie ist zu dieser Feststellung gezwungen, nein, auch Großhandel, Handel, Gewerbe und Landwirtschaft stellen fest: Hier muss Wandlung geschaffen werden.

Seit dem Jahre 1894, also seit mehr als 40 Jahren, hat die Erörterung des Ausbaues dieser Schmalspurbahn zur Vollspurbahn weite Kreise erfasst. Nicht zuletzt empfindet auch unsere Landwirtschaft diese Schmalspurbahn als etwas, dass aus seinem Dornröschenschlaf erweckt werden sollte. Unsere Landwirtschaft wird mit vollem Recht als die Kornkammer Sachsens bezeichnet und hat damit gewaltige Aufgaben zu lösen, Aufgaben von höchster volkswirtschaftlicher Bedeutung. Die Lösung kann aber nur in vollsten Maße befriedigt werden, wenn nicht die Verkehrsverhältnisse mangelhaft sind. Und das muss die Landwirtschaft empfinden, insbesondere dann, wenn zur Zeit der Ernte ein außerordentlich starker Güterverkehr einsetzt, dem die Schmalspurbahn nicht immer genügen kann. Wenn auch die Reichsbahndirektion Dresden dieses nicht ganz zugeben wird, so hat sie doch insofern Zugeständnisse gemacht, dass sie einen außerordentlichen Güterverkehr z.Z. der Ernte nicht in Abrede stellt. In wie weit dieser Überhaupt den Anforderungen gerecht wird verschweigt die Bahn, die Landwirtschaft und auch die Industrie aber wissen hiervon ein Liedchen zu singen. Die Kaolinindustrie spricht bezeichnender Weise von einem Wagenmangel zu manchen Jahreszeiten. Dabei ist es aber auch in erster Linie die Industrie, die den Rollbockgüterverkehr als besonders lästig empfindet. Und noch eins ist es, das den Wunsch nach Ausbau dieser Schmalspurbahn immer stärker betonen lässt: die Aufschließung unseres Landwirtschaftlich so reizvollen Heimatgebietes, der Hubertusburger Forst, der Horst-See, der Collmberg usw. Gerade dieses Heimatgebiet bleibt so vielen Freunden der Natur und Erholungssuchenden verschlossen, einfach deswegen, weil die Bahn hier tausendfachen Wünschen nicht entspricht.

Aus all dem vorhergesagten geht hervor, das der Zustand des Bahnverkehres auf die Dauer unerträglich ist. Handel und Wandel leiden. Erheblicher Frachtverkehr wird der Bahn als Folgeerscheinung der gänzlich unzulänglichen Güterverbindungen entzogen und wandert auf den privaten Güterverkehr durch Schnellwagen ab.

Im Schneckentempo vollzieht sich hier der Verkehr. Die Industrie steht im Zeichen steter Fortentwicklung, nur die Bahnverhältnisse konnten sich den Zeitverhältnissen nicht anpassen. 40 Jahre lang, wie bereits Eingangs erwähnt, wird der Ausbau der Oschatz – Mügeln – Wermsdorf – Neichen-Zödhaer Strecke behandelt ohne je zum Ziele gekommen zu sein. Jetzt aber muss einmal ernstlich dieses Problem zur Debatte stehen. Die Reichsbahn kann und darf sich den immer lauter werdenden Wünschen nicht mehr verschließen.

So fand gestern Abend im Sitzungssaale des Rathauses eine Zusammenkunft der Vertreter der Industrie, des Großhandels, Handels, Gewerbes, der Landwirtschaft und sonstige Interessenten statt. Die einmütige Feststellung, dass es so nicht weitergehen kann, kam zum Ausdruck. Insbesondere aber führte unsere Industrie berechtigte Klage, die unter anderem auch den Ausbau der Industriebahn Mügeln – Börtewitz – Kroptewitz forderte, um so über Großbothen in Direkte Verbindung mit dem Bornaer Kohlerevier zukommen. Ferner ist im Interesse der Verbindungen, die die Kaolinindustrie mit Bayern hat, der Ausbau dieser Industriebahn ein Gleichbringendes Erfordernis wie der Ausbau der Strecke Oschatz – Mügeln – Wermsdorf – Neichen-Zöhda.

Hoffen wir, das die gestern zu Sprache gekommenen Klage über den gänzlich unzulänglichen Bahnverkehr endlich nun von den maßgebenden Stellen gehör finden. Wir wissen, dass der Ausbau nicht unerhebliche Mittel bedingt. Diese müssten aber im Interesse unserer blühenden Industrie und ihrer Fortentwicklung aufgebracht werden. Die Bahn kann und darf nicht hier in Widerspruch zu den gerechten Anforderungen der Industrie stehen. Die Landwirtschaft, die die Ernährung unseres Volkes zu sichern hat, hat berechtigten Anspruch auf Anpassung der Verkehrsverhältnisse an die gegebenen Verhältnisse, die den Ausbau zum brennendsten Problem machen. Und nicht zuletzt stehen Handel und Gewerbe in dieser Fordernis hinter Industrie und Landwirtschaft und machen deren Fordernis zu ihrer eigenen Angelegenheit. Alles ging mit der Zeit mit, nur unsere Schmalspurbahn blieb eben Schmalspurbahn, ohne sich den Zeitverhältnissen anzupassen. Hiergegen wehrt man sich. Man kämpft um Anerkenntnis unserer Forderungen, die das dringende Gebot der Stunde sind. Möge die Reichsbahn unsere Schmalspurbahn und damit das ganze wirtschaftliche Leben unserer Heimat aus dem Dornröschenschlafe erwecken. Die Zeit ist gekommen. Möge die Tat folgen!